Chance Pferd in der systemischen Beratung – Der Prozess
Zirkuläre Prozessgestaltung beim Pferdecoaching
Die Klienten entscheiden sich zuvor bewusst für ein Pferdecoaching, also eine Erweiterung des Settings um Pferde. Damit verlassen sie ihre gewohnte Komfortzone und lassen sich auf Neues ein. Allein das ist ein Zeichen von Veränderungsabsicht oder Neugier.
Das Joining ist in diesem Kontext ein ganz wichtiger Punkt. Die erste praktische Begegnung mit den Tieren erfolgt nach der theoretischen Besprechung der Rahmenbedingungen. Zu Beginn stehen meist Beobachtungsübungen und somit der Versuch, ablaufende Prozesse in dem sozial strukturierten System Herde von „außen“ zu erkennen und zu benennen. Schon durch das Beobachten, was den Tieren nicht entgeht und was einem Außenreiz auf ihr System gleichkommt, entstehen teils andere Verhaltensmuster in der Herde.
Das weitere Vorgehen beim Pferdecoaching ist von Klient zu Klient unterschiedlich, aber oft kommt es dann zur ersten Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Tier.
Äußerlichkeiten sind für Menschen durch die Sozialisation erwartetes wichtiges Identifikationsmerkmal, für Pferde sind sie völlig uninteressant.
Menschen kommen mit positiven und/oder negativen Erwartungen und Vorstellungen. Diese Imagination ist für eine bestimmte „Energie“ oder „Ausstrahlung“ verantwortlich. Die daran beteiligten Körperfunktionen werden vom neurohormonalen System gesteuert.
Das betrifft z.B. den Spannungszustand der Muskulatur, Atemfrequenz, Herzschlag, Mimik usw. Dieses wird von den Tieren stark reflektiert und sie entscheiden, ob der Kontakt zu der Person jetzt zurzeit für sie angenehm und nutzversprechend sein könnte oder nicht. Sie schließen sich einem Gegenüber nur an, wenn dieser für sie keine Bedrohung darstellt. Da sie Fluchttiere sind, würden sie im Fall einer Bewertung, die gegen den Kontakt spricht, weggehen.
Da Pferde sehr sozial und neugierig sind, gibt das den Menschen einen großen Rahmen von akzeptablem Verhalten vor.
Es gibt kein Vorwegnehmen von Eventualitäten, sondern ausschließlich Reaktionen auf konkrete Situationen.
Es ist unwichtig, ob der Klient bei den Übungen mit dem Pferd „Erfolg“ hat. Diese Übungen machen Verhaltensmuster sichtbar, und das ist das Ziel eines Pferdecoachings.
Abbildung 1: Zirkulärer Prozess
Der Prozess ist, wie in Abbildung 1 dargestellt, zirkulär: Das unmittelbare wertfreie Feedback der Tiere auf das Verhalten der Klienten ist der Beginn, um ggf. anderes neues Verhalten zu versuchen, auf das dann wieder ein autonomes Feedback der Tiere folgt.
Erlebbare Chancen des Pferdecoachings
Allein schon die positive Einstellung des Klienten, mit dem Pferdecoaching etwas Neues auszuprobieren, sich auf ein „Experiment“ einzulassen und sich auf neue, andere Lebenswelten einzustellen, ist nicht selbstverständlich und zeigt eine große Ressource.
Emotionen und gezeigtes Verhalten, was sonst schwer konkret zu benennen ist, werden durch die sensible Reaktion der Tiere auf einer anderen Ebene sichtbar.
Rollen, welche bewusst oder unbewusst existieren, können wahrgenommen und reflektiert werden.
Unterschiede werden erlebbar, man kann sie benennen und reflektieren. Wahrnehmung als Form der Wertschätzung ist Voraussetzung, um in Kontakt mit den Tieren treten zu können.
Die eigenen Fähigkeiten werden spürbar, die Klienten lernen ihre Grenzen kennen und können sie in einem geschützten Rahmen erweitern. Persönliche Entwicklungsvorstellungen können auf ihre Authentizität geprüft werden und annehmbar gestaltet werden. Entscheidungen des Klienten, die während der Zusammenarbeit mit den Pferden getroffen werden, müssen transparent, klar und nachvollziehbar sein. Die Absicht dahinter muss erkennbar sein, nur dann wird sich das Pferd bewegen.
Die Akzeptanz anderer Lebenswelten und Wertvorstellungen, sowie eine Portion Empathie sind eine gute Voraussetzung, um sinngebend zu motivieren. Das Tier trifft eine klare Kosten-Nutzen-Entscheidung in Bezug auf die Fragen, die ihm vom menschlichen Gegenüber gestellt werden. Im Teamtraining stehen alle Mitglieder gleichberechtigt in einer neuen Situation. Um die Übungen zu schaffen, ist es erforderlich, erfolgreich und zielorientiert zu kommunizieren. Ein gemeinsamer Plan muss erarbeitet werden. Die Mitglieder sprechen sich gegenseitig um Unterstützung an, was das Teambuilding verstärkt.
Der Nutzen von Pferdecoaching im Spiegel der Wissenschaft
Es gibt noch nicht viel Literatur oder Forschungsergebnisse auf dem Gebiet Pferdecoaching. Hier folgen einige Auszüge der Arbeit des Österreichers Robert Koch. Die folgenden Ausführungen stellen die Untersuchungsergebnisse dar, welche im Rahmen einer Masterarbeit an der ARGE Bildungsmanagement Wien, Masterlehrgang Psychotherapie, unter dem Titel „Der Mensch-Tier-Kontakt als Teil der systemischen Therapie – Welchen Nutzen haben KlientInnen durch die Einbeziehung von Pferden?“ von Robert Koch 2011 veröffentlicht wurden.
Koch untersucht in seiner Arbeit, ob eine Erweiterung des Settings um Pferde bei Patienten, welche an unterschiedlichen Erkrankungen wie z.B. Depression, Burnout, und Panikattacken leiden, eine nachhaltige Beeinflussung des Genesungsverlaufs bringt und falls ja, dann in welcher Weise. Dazu wurden 22 Patienten, welche nach ICD 10 diagnostiziert und bei drei unterschiedlichen Psychotherapeuten in Behandlung sind, zu einer einstündigen Pferdesession eingeladen. Nach zwei Monaten befragte Koch sie nach einem Interviewleitfaden von Merton und Kendall. Er hatte den Patienten per Email zuvor einen einminütigen Ausschnitt der Videoaufzeichnung ihrer Pferdebegegnung zugeschickt. Aus den Ergebnissen der Patientenbefragung hat er sieben Kategorien (s.u.) gebildet. Er stellt in der Auswertung seiner Befragung eine Bereicherung der Psychotherapieeinheit fest. „Ressourcen und die Reflexion über Handlungen und innere Vorgänge werden gestärkt. Dies hat für Klienten eine nachhaltige Wirkung auf die psychische Gesundheit.“
Die sieben induktiv gebildeten Kategorien sind:
K1- Das Pferd als Co Therapeut
K2- Veränderungen der Selbstwahrnehmung
K3- Emotionale Selbstreflektion
K1 – Das Pferd als Co Therapeut
Die erste Kategorie befasst sich mit der Fragestellung, was das Pferd als Co-Trainer speziell im Bereich der systemischen Therapie auszeichnet. Koch ermittelte vor allem eine Bedeutung für die „Beeinflussbarkeit von Situationen oder Menschen“, die daraus resultiert, dass durch das Pferd „die Situation ‚begreifbar‘ wird, erlebbar“ (vgl. S. 74).
Der Klient befindet sich beim Pferdecoaching also in einer völlig anderen Lernsituation – Interaktionspartner sind Pferde. Er hat besondere Sinneswahrnehmung (z.B. Geruch der Tiere, Körperwärme, Berührung des weichen Felles, den Atem spüren, die weichen Nüstern und die langen Tasthaare …)
Durch den Eintritt in diese andere Lebenswelt findet der Prozess auf einer anderen Ebene, dem Erleben, statt. Es gibt eine Einheit zwischen Denken, Fühlen und Handeln; immer mit einem unmittelbaren, wertfreien und annehmbaren Feedback der Tiere.
Koch bezeichnet dies als „Übertragbarkeit der eigenen Gefühle (Spiegeln)“. (vgl. S. 73)
Es sind keine abstrakten Denkmuster nötig, sondern die Klienten können instinktiv geprägte Lernmuster anwenden. Sie können beobachten, wie „verschiedene Signale (…) unterschiedliche Reaktionen des Pferdes (ergeben)“. (vgl. S. 73)
Sie können sich wieder, ihrer Art gerecht, auf ihre Sinne (Hören, Riechen, Sehen, Fühlen) verlassen.
Die Klienten stellen fest, dass „mit Druck (…) keine Kooperation möglich (ist)“. (vgl. S. 73)
K2 – Veränderung der (Selbst)Wahrnehmung
Im zweiten Schritt wird die Veränderung der Selbstwahrnehmung als Prozess definiert, der sich laut Koch vor allem durch „Klarheit in der Formulierung von Wünschen und Anliegen“ (vgl. S. 75)auszeichnet.
Ursache für die verzerrte Kommunikation ist dem Autor nach unter anderem, dass „[…]viele Menschen gelernt haben, dass es unhöflich ist, die eigenen Bedürfnisse klar und eindeutig zu kommunizieren“.
Mit Sicherheit ist die erforderliche Klarheit der Umwelt gegenüber ein wichtiger Punkt. Aber für mich ist ebenso faszinierend, wie schnell immer wieder diese persönlichen „Fahrrinnen“ des Lebens der Klienten und auch die eigenen! sichtbar werden; diese unterschiedlichen bewährten „Persönlichkeitshelfer“ in Form von typischen Verhaltensmustern (neuropsychologischen Prozessen) in bestimmten Situationen.
Durch die ständige Rückmeldung der Tiere wird man immer wieder zur Reflektion darüber aufgefordert.
Für mich bedeutet das eine Chance, die sonst meist unbewussten Prozesse immer wieder gespiegelt zu bekommen und sie dadurch oft reflektieren zu müssen, Unterschiede festzustellen und Entwicklungen.
K3 – Emotionale Selbstreflektion
Voraussetzung für die in Kategorie K2 ausgeführte Klarheit nach außen ist für mich die innere Klarheit. Als Grundsteine hierfür identifiziert Koch anhand der Ergebnisse der Befragung „Prioritätensetzung und […] für-sich-sorgen-Können […]“ (vgl. S 77).
Ich persönlich würde das auch als Authentische Lebenshaltung bezeichnen.
Dazu gehört es, „sich Zeit zu geben um nachzudenken, nicht sofort zu handeln“, „Grenzen (zu) setzen, (um eine) gute Regulierung für Nähe und Distanz (zu) finden“ und „Distanz zu problematischen Situationen (aufzubauen)“.( vgl. S. 77)
Alle Verstellung, die man denkt zeigen zu müssen, kostet Kraft und Energie und führt im chronischen oder extremen Fall zu Krankheit.
Pferde spüren eventuell herrschende Divergenzen zwischen äußerer und innerer Klarheit. Sie zeigen diese dem Klienten durch ihr Verhalten auf.
K4 – Innere Ressourcen
Vertrauen, Sicherheit und Mut sind wichtige Voraussetzungen frühkindlich-menschlicher Entwicklung.[1] Professor Gerald Hüther und Robert Koch greifen diese inneren Ressourcen in ihren Arbeiten in verschiedenen Stadien auf, kommen jedoch zu dem gemeinsamen Schluss, dass „Sicherheit […] Vertrauen (stärkt)“ (Koch2011, S. 79).
Kochs Befragung ergibt zudem, dass „Sicherheit […] wichtig (ist), um führen zu können“. Demnach führt der Weg zur Stärkung der inneren Ressourcen über Konfrontation zu mehr Sicherheit, über sich-angenommen-fühlen zu weniger Zögerlichkeit (vgl. Koch2011, S. 79).
Wie auch immer das der Einzelne persönlich erfahren hat, sind wir evolutionär bedingt immer auf der Suche nach unseren inneren Ressourcen. Diese Voraussetzungen bilden auch im späteren Leben den Rahmen, wenn wir unsere „Komfortzone“ in Richtung Entwicklung/Therapie verlassen.
K5 – Positive Emotionalität
Die „eigene problembeladene Situation“ während der Arbeit mit den Tieren von der rein kognitiven auch auf die emotionale und motorische Ebene zu reflektieren und sich wirklich in dem Moment ins Hier-und-Jetzt zu begeben, ist ein sehr konsequenter Perspektivwechsel. Es gibt keine Vorweg-Annahmen bei Pferden, nur konkrete Situationen mit angemessenen konkreten Reaktionen.
Diesen „Break“ vom eigenen „Kopfkino“ zu haben und in ein anderes Erleben für einige Zeit einzutauchen, das wird vielleicht von Klienten als Entspannung empfunden, die Koch als „gegenteilig zu Anspannung“ und damit positive Emotionalität deutet (vgl. Koch 2011, S. 82). Dabei können andere Gedanken-Verknüpfungen entstehen.
K6 – Lösungsfokussierung
Zu Beginn des Mensch-Pferd-Kontaktes ist oft eine große Unsicherheit beim Klienten vorhanden. Im Prozess verliert sie sich zunehmend. Wenn am Ende der Session der Klient realisiert: „Ich habe meine Unsicherheit überwunden, ich habe das große Tier von meinen Vorstellungen überzeugen können … Das habe ich geschafft!“ ist das etwas sehr starkes.
Auch Koch ermittelte in seiner Befragung, dass Klienten die Visualisierung des Lösungswegs als sehr bedeutsam empfanden. Motivation zogen sie vor allem daraus, den „eigenen Weg (mit Freude) gehen zu können“ (Koch 2011, S. 83), dabei konsequent zu bleiben und ihre Prioritäten zu finden.
Koch bezeichnet weiterhin das „Hier und Jetzt“, das durch die Anwesenheit und Arbeit mit den Pferden noch deutlicher ins Bewusstsein rückt, als wichtigen Punkt in der Systemischen Therapie, da „aktuelle Probleme zumeist nur in der aktuellen Zeit gelöst werden können“.
Dieses Erleben symbolisiert Kraft, Willen und viele Ressourcen, die für aktuelle Lebensumstände genutzt werden können.
K7 – Selbstwertstärkung
Für das Selbstwertgefühl ist es wichtig, dass die Tiere den Menschen mit seinem Verhalten so annehmen, wie es sich in diesem Moment der Begegnung zeigt. Es gibt keine Annahmen, keine Äußerlichkeiten – nur reelle Situationen. Und immer wieder neue Chancen, da Pferde nicht nachtragend sind. Auch Koch stellte fest, dass „dem Selbstwert […]ein hoher Stellenwert zu(kommt), da Klienten, die einen hohen Selbstwert haben, eher auf eigene Bedürfnisse achten und sich ihres ‚Wertes‘ eher bewusst sind“ (Koch2011, S. 85). Dazu gehöre es auch, sich zu trauen dominant und direkt zu sein.
Ebenso tragen die Visualisierung und das Erleben einer Lösungsfokussierung und das starke Erleben einer persönlichen Entwicklung zur Selbstwertstärkung bei.
Abbildung 2: Erweiterung der persönlichen Komfortzone durch Pferde als Co Therapeut
Arist v. Schlippe Geleitwort zum Buch „ Pferdegestützte systemische Pädagogik“ (Urmoneit, 2013, S. 10):
„[…] Problemsysteme können dann sehr stabil sein, bedauerlicherweise sind sie oft mit negativen Gefühlen verbunden, weil kritische Kommunikationsmuster immer wieder durchlaufen werden. Das Pferd bietet hier ein neues „derartiges „Drittes“. Ein ungewöhnlicher Kontext entsteht. Er ist durch die Möglichkeit gekennzeichnet, sich gemeinsam auf einen Fokus zu beziehen, der nicht belastet ist und der so eine Musterunterbrechung und mit ihr den Übergang in ein anderes Sozialsystem erleichtern kann.“
[1]vgl. Vortrag DIJG Prof. Gerald Hüther, 2004: „Kinder brauchen Vertrauen. Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns“